Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Mythen, Erkenntnisse, Impulse

Die Ringvorlesungsreihe Lehr- und Lernperspektiven im Wintersemester 2016/17 neigt sich dem Ende zu. Den bereits vorletzten Vortrag hielt am 26.01.2017 Prof. Dr. Frank Lipowsky der Universität Kassel unter dem Titel „Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen?“ Der Hörsaal war gut gefüllt – rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörer folgten dem Vortrag.

Mit der erklärten Absicht, einige Mythen zu entzaubern, aber auch Erkenntnisse zu liefern und weitere Impulse für die Praxis zu setzen, gestaltete Prof. Dr. Lipowsky die anderthalb Stunden seines Vortrags interessant und nah an der Lebenswirklichkeit von Lehrkräften. Die Forderung nach einer zunehmenden Individualisierung von Lernprozessen erfährt angesichts heterogener Klassen immer stärkere Relevanz. Doch unter welchen Voraussetzungen ist individualisiertes Lernen sinnvoll, und wann kann es demgegenüber gar hinderlich sein? Wer profitiert von dieser Art des Lernens und wer nicht?

Um den Erfordernissen zunehmend heterogener Klassen zu folgen, wird in Teilen der deutschen Schullandschaft individualisiertes Lernen als adäquate Antwort auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern verstanden. Seinen sichtbaren Ausdruck findet dieses Verständnis eines individualisierenden Unterrichts u.a. in sogenannten ‚Lernateliers‘, ‚Lernlandschaften‘ oder ‚Lernboxen‘, in denen Schülerinnen und Schüler getrennt voneinander an verschiedenen Aufgaben arbeiten. Individualisierung wird in diesem Kontext häufig als Einzelarbeit realisiert, wobei die Steuerung der Arbeit von Plänen und Materialien übernommen wird. Wie erfolgreich ist diese Art des Lernens?

Prof. Dr. Frank Lipowsky
Prof. Dr. Frank Lipowsky

Bei der Konsultation der Ergebnisse der Hattie-Studie wird deutlich, dass individualisierendes Unterrichten nur eine geringe positive Auswirkung auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler hat. Ein möglicher Grund hierfür liegt nach Ansicht von Prof. Dr. Lipowsky darin, dass solche geöffneten und individualisierten Unterrichtsformen erhebliche Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler stellen und insbesondere die schwächeren Lernenden dadurch überfordert sind. Eine Studie von Connor, Morrison & Petrella (2004) zeigt eindrucksvoll, dass die Leseleistungen schwächerer Schülerinnen und Schüler geringer ausfallen, wenn sie in einem eher schülerorientierten Unterricht lernen, im Vergleich zu einem von der Lehrperson gelenkten Unterricht. Demgegenüber zeigt sich für starke Leserinnen und Leser, dass sie auch in einem schülerorientierten Unterricht ihre Leseleistungen deutlich verbessern können.

Formen individualisierenden Unterrichts weisen nach Prof. Dr. Lipowsky vor allem dann Potential auf, wenn bestimmte Anforderungen und Bedingungen beachtet werden, beispielsweise eine sorgfältige und antizipierende Unterrichtsplanung, die auf die Abstimmung und sinnvolle Verknüpfung von Individualisierungs- und Plenumsphasen achtet. Zudem sei es wichtig, kognitiv anregende Aufgaben auszuwählen oder zu entwickeln und die Lernvoraussetzungen der Lernenden sowie ihre Verständnisschwierigkeiten zu diagnostizieren, um angepasste Unterstützung leisten zu können.

Individualisierung ist nach Prof. Dr. Lipowsky kein Königsweg zum Lernen, sondern ein Ansatz unter mehreren. Qualität erlangt ein solcher Unterricht nicht dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler in Einzelarbeit Pläne „abarbeiten“ oder dadurch, dass ihnen viele Wahlfreiheiten zugestanden werden, sondern dadurch, dass sie – durch Mitschülerinnen und -schüler, durch die Lehrperson und/oder durch Materialien und Aufgaben – zum Nachdenken angeregt werden und in ihrem Lernprozess konstruktiv sowie inhaltsbezogen unterstützt werden. Es kommt daher weniger auf die Oberflächenstruktur, sondern auf die Tiefenstruktur des Unterrichts an.

In der anschließenden Diskussion wurden die Thesen und Befunde des Vortrags durch Anmerkungen und Anregungen ergänzt. So müsse ‚individualisiertes Lernen‘ nicht unbedingt Lernen in Einzelarbeit bedeuten. In der Praxis existieren unterschiedliche Modelle der Verknüpfung von Unterrichtsformen. Die Anwesenden waren sich einig darüber, dass ein guter und wirksamer individualisierender Unterricht eine hohe fachliche Expertise der Lehrperson voraussetzt.

Die Präsentation kann bei Prof. Dr. Lipowsky angefragt werden.