Lehrentwicklungsprojekt: Am Kreuzweg – Intersektionalität als Paradigma einer mediävistischen Didaktik

Julian Happes (Institut für Politik- und Geschichtswissenschaft , Fachrichtung Geschichte, Pädagogische Hochschule Freiburg / Prof. Dr. Stefan Seeber (Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) Projektlaufzeit: 01.04.2022 – 31.12.2023

  1. Zusammenfassung

Für die Lehrkraftausbildung an Universität und Hochschule besteht die große Herausforderung darin, die Trias aus Aktualitätsbezug, Interdisziplinarität und fachwissenschaftlicher Validität in der Lehre umzusetzen und die dabei entwickelten Konzepte nachhaltig zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird im Rahmen unseres Projekts Intersektionalität als Paradigma einer mediävistischen Didaktik vorgeschlagen und in der Lehrkraftausbildung verankert. Das Projekt versteht sich als Vermittler zwischen den für die Lehrkraftausbildung zentralen Komponenten Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Schulpraxis und zwischen den gerade für die mediävistische Didaktik vermeintlichen Gegensätzen Aktualitätsbezug und wissenschaftliche Validität. Konkret ging es uns darum, aktuelle und anschlussfähige Theorien wie Intersektionalität hinsichtlich ihrer didaktischen Anschlussfähigkeit zu prüfen und anhand konkreter Fallbeispiele aus dem Mittelalter anzuwenden.

  1. Projektziele

 Interdisziplinarität – Die Ergebnisse aus der ersten FACE-Förderphase haben deutlich gezeigt, welchen Mehrwert eine institutionenübergreifende interdisziplinäre Lehre für die Student:innen in den Lehramtsstudiengängen bietet; dieser Erstbefund hat sich in der durchgeführten Lehrveranstaltung bestätigt. Mit dem Konzept der Intersektionalität im Mittelalter betraten wir fachwissenschaftliches Neuland. Die beteiligten Student:innen konnten durch ihr fachliches Vorwissen und spezifischen Kompetenzen vormoderne Literatur in einem weiteren Verständnis erschließen, also als historische ebenso wie literarische Quellen, und diese auf aktuelle gesellschaftliche Strukturen übertragen.

Didaktisierung – Durch die Kooperation zwischen den didaktisch bereits intensiver geschulten Student:innen der PH und denen der Universität ergab sich ein Mehrwert für die Erarbeitung des didaktischen Konzepts der Intersektionalität. Hierzu wurden die ausgewählten Quellen didaktisch aufbereitet und auf die Anforderungen des Geschichts- und Deutschunterrichts in Baden-Württemberg abgestimmt.

Transfer – Oft und zu Recht bemängelt wird der fehlende Transfer von aktuellen fachwissenschaftlichen methodischen Zugängen in die Schulpraxis. Diesen erreichen wir unmittelbar über die beteiligten Student:innen und durch die Hinzuziehung aktiver Lehrkräfte mit ihrer spezifisch schulpraktischen Expertise im Seminar. Die gewonnenen Erkenntnisse konnten im Rahmen zweier einschlägiger Tagungen einem breiteren Expert:innenkreis zur Diskussion gestellt werden; zwei Publikationen sind in Planung resp. zur Veröffentlichung angenommen.

Nachhaltigkeit – Wie bereits bei dem vorhergehenden Projekt war es uns ein besonderes Anliegen, die Nutzbarkeit unserer Konzepte zu evaluieren und nachhaltig zu stellen. Wir verstehen das vorgestellte Projekt als weiteren Baustein unseres mittelfristigen Ziels, eine neue und transdisziplinäre mediävistische Didaktik zu entwickeln und Akteur:innen aus Hochschule, Schule und außerschulischer Bildung zu vernetzen und miteinander in Austausch zu bringen.

  1. Fachwissenschaftlicher Hintergrund

Unter Intersektionalität verstehen wir die Verflechtung unterschiedlicher Kategorien wie race, class oder gender bei der Diskrimierung einzelner Personen oder gesellschaftlicher Gruppen. Entscheidend ist dabei, dass diese Kategorien nicht für sich stehen, sondern sich gegenseitig potenzieren. Übertragen wir dieses Konzept auf die Epoche des Mittelalters, können wir die Konstruiertheit und Wandelbarkeit dieser Diskriminierungen entlarven, besser verstehen und in einem zweiten didaktischen Schritt in der Schule ein Verständnis für herrschende Macht- und Herrschaftsverhältnisse wecken.

  1. Verknüpfung des fachwissenschaftlichen Inhalts mit dem aktuellen Bildungsplan

 Das Mittelalter fristet im Geschichts- und mehr noch im Deutschunterricht ein marginalisiertes Dasein, die epochenspezifische Ausbildung beschränkt sich auf wenige Großthemen oder einen optionalen Blick auf mittelalterliche Literatur. Gleichzeitig fordert der aktuelle Bildungsplan in der Leitperspektive „Bildung für Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt“ explizit, die Schüler:innen zu einem „konstruktiven Umgang mit Vielfalt“ anzuleiten.[1] Über den Zugang Intersektionalität konnten wir erfolgreich mittelalterliche Quellen und Themen für ein Verstehen aktueller gesellschaftlicher Gemengelagen aufschließen und damit die oft kolportierte Aussage entkräften, die Beschäftigung mit dem Mittelalter sei nicht anschlussfähig für die zentralen Herausforderungen unserer Zeit.

  1. Beschreibung und Ablaufplan der Veranstaltung

Die Veranstaltung gliederte sich in drei Phasen: theoretische Erschließung – gemeinsame Erarbeitung – Präsentation und Diskussion der Ergebnisse:

Theoretische Erschließung:

Die ersten fünf Seminarsitzungen dienten dazu, sich die mitunter komplexen theoretischen Zugänge zu erschließen und sie zusammenzudenken. Dazu zählten:

  • Einführung in die mediävistische Didaktik
  • Einführung Intersektionalität (Konzepte und Methoden)
  • Vertiefung I/III Intersektionalität und Mediävistik
  • Vertiefung II/III Intersektionalität Germanistik
  • Vertiefung III/III Intersektionalität und mediävistische Didaktik

Gemeinsame Erarbeitung:

Die Studierenden erarbeiteten in interdisziplinären Teams spezifisch mittelalterliche Quellen unter dem methodischen Zugriff Intersektionalität:

  • Tabuisierung von Queerness im Herzog Ernst
  • Dis-/ability in den Legenden der heiligen Odilia
  • Sexualisierte Weiblichkeit in Marco Polos Il Millione
  • Maskuline Weiblichkeit in Schillers Maria Stuart
  • Feirefiz als intersektionale Figur in Wolframs von Eschenbach Parzival
  • Monstrosität als interdependente Kategorie in Wirnts von Grafenbergs Wigalois

Präsentation und Diskussion der Ergebnisse:

In der letzten Phase des Seminars wurden die erarbeiteten Quellen und die verwendeten Zugänge präsentiert und hinsichtlich ihres didaktischen Potenzials diskutiert.

 

  1. Evaluation

Die Veranstaltung wurde über die Pädagogische Hochschule Freiburg digital evaluiert und die Ergebnisse bestätigen sowohl die Fruchtbarkeit des interdisziplinären Zugangs sowie professionsorientierten Mehrwert der Verbindung von Intersektionalität und mittelalterlichen Quellen.

[1] Leitperspektive Bildung für Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt. https://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/LP/BTV