Prof. Dr. Rudolf Denk: Ansätze zur theaterpraktischen und theaterdidaktischen Erschließung dramatischer Texte: Lesarten, dramaturgische Modelle, Regiekonzepte

Praxiskolleg Ringvorlesung WS 19/20 „Theater und Schule“ am 14.11.2019

Den vierten Vortrag in der Ringvorlesung hielt Rudolf Denk, Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Mit einem klaren Plädoyer für eine intensivere Einbindung von dramatischen Texten in den Unterricht veranschaulichte Denk an drei Beispielen, wie mit theaterdidaktischen Methoden die als sperrig und unhandlich geltende Textart Drama als Theaterereignis erfolgversprechend in den Unterricht eingebaut werden kann.

Vom langsamen Verschwinden dramatischer Texte im Buchhandel – dramatische Texte im Abseits?

Zu Beginn der Vorlesung wies Herr Denk auf die inzwischen problematische Stellung der dramatischen Texte im Schulalltag hin. Dramatische Texte drohen – von der Sternchenliteratur abgesehen – aus den Bücherregalen zu verschwinden. Sie werden selten verlangt, gelten allgemein als weniger zugänglich, um sie im Unterricht zu behandeln. Verlage streichen Dramen, die nicht mehr gelesen werden, aus ihren Programmen. Denk setzte sich deshalb in der Vorlesung diesem Trend entgegen, da sich gerade in dramatischen Texten eine Vielzahl an theatralischen Momenten entdecken und demonstrieren lassen. Wie dies funktionieren kann, zeigte Denk exemplarisch an drei Theaterstücken und deren unterschiedlichen Strukturelementen: Einmal an einer älteren Berliner Inszenierung von Friedrich Schillers Kabale und Liebe; zum anderen an zwei aktuellen Aufführungen des Freiburger Stadttheaters, Anton Tschechows Onkel Wanja und Ödön von Horváths Kasimir und Karoline.

Prof. Dr. Rudolf Denk absolvierte eine beeindruckende Karriere, die an den Universitäten in Wien und München begann und ihn letztendlich nach Freiburg führte. Neben Germanistik und klassischer Philologie studierte er außerdem Theater- und Musikwissenschaft. Er war als Regieassistent an verschiedenen Theatern tätig und studierte Gesang an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Nach drei Jahren schulpraktischer Tätigkeit am Schillergymnasium Ludwigsburg kam er als Dozent 1974, als Professor 1978 an die Pädagogische Hochschule Freiburg, von 1990 bis 1998 war er Rektor dieser Hochschule. Beliebt sind bis heute seine auch aus Seminaren am „Deutschen Seminar“ der Universität Freiburg hervorgegangenen Theaterexkursionen und Theaterreisen, die Denk inzwischen für die „Theaterfreunde Freiburg“ organisiert.

Kooperationen zwischen Schulen und Theatern: Die Vor- und Nachbereitung ist für einen Theaterbesuch mit unterschiedlichen Gruppen entscheidend

Prof. Denk verdeutlichte in seinem Vortrag, dass ein Theaterbesuch, verbunden mit einer Unterrichtseinheit zu dramatischen Texten, nachhaltig auf Schülerinnen und Schüler wirken kann. Die Schülerinnen und Schüler können im Selbstversuch erfahren, ob die Regiekonzepte von Produktionsteams an Theatern in sich stimmig sind und beim Publikum erfolgreich oder weniger bzw. kaum nachvollziehbar ankommen. So können die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld Überlegungen zu möglichen Konzeptionen für eine Aufführung in den Kategorien Raum, Figuren und Medieneinsatz anstellen. Nach dem gemeinsamen Theaterbesuch lassen sich die eigenen Vorüberlegungen mit der in der Theateraufführung entdeckten Konzeption vergleichen. Bei dieser streng anwendungsbezogenen Arbeit kann konkret auf Lesarten, Strichfassungen, dramaturgische Modelle und Regiekonzepte im Vergleich eingegangen werden.

Ansätze zur theaterpraktischen und theaterdidaktischen Erschließung dramatischer Texte exemplarisch anhand von drei Theaterstücken

1. Eine über eine Leseprobe („Partiturmethode“) gewonnene Lesart ergibt ein geschlossenes Raumkonzept zu Schillers Kabale und Liebe und wird zur Leitidee der Inszenierung

Als exemplarischen Einstieg wählte der Referent ein Drama des Sturm und Drang, Friedrich Schillers Exposition zu dem Bürgerlichen Trauerspiel Kabale und Liebe (1784). Die erste Szene wurde ohne Nennung der Figurennamen als Leseprobe präsentiert. Dabei zeigte Denk, dass sich bereits in den ersten Sätzen der Figur des Hausvaters Miller durch die Anwendung der Partiturmethode eine deutlich erkennbare Lesart ergibt: Miller ist mit seinen Attacken auf den Junker und adligen Verehrer seiner Tochter nicht mehr „Herr im Haus“. Diese Lesart beinhaltet die Enge des bürgerlichen Raums, aus der es vermutlich kein Entrinnen für die Angehörigen der bürgerlichen Welt gibt. Damit ist zum einen die Konfrontation zwischen Bürgertum und Adel konstitutiv; zum anderen zeigt die Geschlossenheit des bürgerlichen Raums die Ausweglosigkeit der Situation (Luise: “Verbrecherin, wohin ich mich neige“). Das aus der Berliner Inszenierung exemplarisch gezeigte Bühnenbild beeindruckte durch absolute Geschlossenheit mit sehr vielen Türen, die mal waagerecht, mal senkrecht, mal zwei Meter über dem Boden, und mal auf dem Boden platziert wurden. Keine der bürgerlichen Figuren samt dem Utopisten und Liebhaber Ferdinand kann diesem Raum entrinnen. Selbst wenn eine Tür sich kurz „ins Freie“ öffnet, wird sie sofort wieder verschlossen.

2. Figuren werden besetzt, unter Umständen gestrichen – das Team im Theater erarbeitet eine Strichfassung für Anton Tschechows Onkel Wanja (1898) – eine Konfiguration entsteht

Das zweite Beispiel bezog sich auf eine aktuelle und zum Besuch empfohlene Freiburger Inszenierung durch den Intendanten Peter Carp: Anton Tschechows Onkel Wanja. Im Mittelpunkt standen dabei Entscheidungen, die im Theater ebenso wie bei Simulationen eines ähnlichen Arbeitsprozesses in der Schule getroffen werden müssen: Wie viele Rollen enthält das Stück? Stehen genügend Spielende für die Rollen zur Verfügung? Müssen Rollen gestrichen, ersetzt oder mehrere Rollen in einer Figur zusammengefasst werden? Welche Tschechow-Übersetzung wählt das Team? An welchen Stellen streichen sie Text? Wie erarbeitet die Produktionsgruppe im Theater eine sogenannte Strichfassung? Was lässt sich aus den Arbeitsschritten der Theaterleute für den Unterricht übernehmen?

Im konkreten Fall musste die Regie, da in Freiburg nur ein kleines Schauspielensemble zur Verfügung steht, zwei Rollen in eine Figur zusammenziehen und eine Figur ganz streichen. Textteile wurden ausgetauscht, andere Partien gestrichen. Da im Kleinen Haus kein Vorhang zur Verfügung steht, der den Publikumsbereich vom Bühnenraum trennt, musste eine Simultanszenerie mit Seitenvorhängen und Schichtungen von Kisten mit Schubladen entworfen werden. Daraus ergibt sich – ganz im Gegensatz zum Beispiel bei Schiller – kein geschlossenes, sondern ein offenes Regie-Konzept mit ständig wechselnden Figurenkonstellationen, die in einer Art Kreislaufbewegung keine Lösung der Konflikte enthalten. Statt Steigerung und Finalität beherrschen Anti-Klimax und Stillstand dieses Drama des Inneren. Diagnostische Blicke, vergebliche Annäherungsversuche schaffen ein Klima zwischen Tragischem und Komischen, an dem auch der durch eine weibliche Figur halbwegs optimistische Schlussakkord nichts zu ändern vermag. Es kann und wird sich nichts bewegen, das Ende gleicht dem Anfang.

Eine Zusammenarbeit der Unterrichtenden mit dem Stadttheater Freiburg könnte an diesen konkreten Einzelschritten ansetzen: Ein von der Lehrperson vorbereitetes Gespräch mit dem Regieteam mit Einblicken in die Fragen der Besetzung und einer Erarbeitung einer Strichfassung und einer daraus abgeleiteten Spiel- oder Regieidee. Ein Vergleich der Vorschläge aus der Klasse mit den konkreten Entscheidungen des Theaterteams könnte für beide Seiten spannend und ergiebig sein.

3. Theatrale Filmszenen am Beispiel von Ödön von Horváths Kasimir und Karoline (1932): Ein transmediales Regiekonzept und seine Folgen

An der aktuellen Aufführung von Kasimir und Karoline konnte Rudolf Denk das Theater selbst als transmediales „Event-Happening“ auf den Prüfstand stellen. Das Regieteam hat in dieser Produktion durch drei zusätzliche mediale Komponenten Horváths Oktoberfestballade in 117 Szenen erweitert und aufgeladen:

  • Durch eine King-Kong-Installation, die filmische Assoziationen im Publikum wachruft und die Auf- und Abtritte der Figuren zu akrobatischen Aktionen werden lässt.
  • Durch Kabarett- und Zirkuselemente, die die Oktoberfestaura ersetzen sollen.
  • Durch die Songs eines Rocksängers und die „authentischen“ Chorpartien von fünf Freiburger „Volks-Chören“.

Schon die Anfangsregieanweisung ist verändert; Horváths Funktion der Pause entfällt. Karoline und Kasimir sind in aktuelle Gender-Debatten eingeordnet, der Wechsel der zwei Paare wirkt überzeichnet, die Funktion der lüsternen Alten Speer und Rauch ist ins Groteske gesteigert. Für das Publikum bedeutet dies eine direkte Konfrontation mit einem radikal-heutigen transmedialen Regiekonzept, das Horváths Volksstück in den umfassenden Superzeichen von Film, Kabarett und Popkultur kaum mehr auftauchen lässt.

Vermutlich sind die medialen Vermischungen für ein jüngeres Publikum gedacht, das ohnehin und ohne weitere Schwierigkeiten schnellen Medienwechsel gewohnt ist. Im schulischen Kontext kann dieses Verfahren Anlass für intensive Erörterungen zum Umgang mit elektronischen Medien sein.

Dramaturgische Grundmodelle didaktisch nutzen

Abschließend verglich Denk die drei dramaturgischen Grundmodelle miteinander, die sich aus den drei Beispielen ergeben und didaktisch nutzen lassen:

  • Die Unerbittlichkeit des Spannungsaufbaus und des Absturzes in die Katastrophe im geschlossenen Raum von Schillers Bürgerlichem Trauerspiel.
  • Die Tendenz zum Undramatischen, zum Unwahrscheinlichen, zur Diagnostik des Krankhaften im narrativen Theater Tschechows, das schon das epische Theater vorwegnimmt.
  • Die Brechungen des Mediums Theater durch filmische Schnitttechniken und digitale Superzeichen bei Horváth.

Für die praktische Arbeit in der Schule entwickelte der Referent als konkrete didaktische Arbeitsbausteine Fragen zur Raumkonzeption, zum Besetzungsprofil der Figuren, zu den Sprechweisen der Figuren und zur Verwendung technischer / medialer Hilfsmittel einschließlich Musik, Beleuchtung, Videoeinspielungen, Links.

Die Aufmerksamkeit durch Beobachtungsaufträge steuern

Die abschließende Diskussion mit den Zuhörenden umfasste folgende interessante und ergiebige Fragestellungen: In welchen konkreten Arbeitsformen könnten Schülerinnen und Schüler auf Aufführungen im Stadttheater vorbereitet werden? Welche Stücke eigenen sich besonders gut zur Bearbeitung? Auf jeden Fall sollten eindeutige Beobachtungsaufträge formuliert werden, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit auf eines der theatralen Elemente richten können.

(Damaris Stein)

Videomitschnitt

Sehen Sie hier den Vortrag von Prof. Dr. Rudolf Denk im Video:

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