FACE it: Der schwedische Weg

FACE it – Lehramtsstudierende bloggen über ihr Studium in Freiburg

Viele Studierenden mussten aufgrund der Beschränkungen infolge der Coronakrise ihre Auslandsemester abbrechen und nach Hause zurückkehren. Julia Lorenz, Bachelor-Studentin an der Albert-Ludwigs-Universität und an der Musikhochschule Freiburg, beschloss jedoch in Stockholm zu bleiben und nimmt die Entscheidung für Schweden gerade auch in diesen Tagen als “echten Glücksgriff” wahr. Sie zeigt, was vom “Vorreiter Europas in Digitalisierung” gelernt werden kann und berichtet von den Auswirkungen auf ihren Alltag als Musikstudentin, die unter anderem dazu führten, dass sie aktuell  auf “den drei Orgeln einer der größten Kirchen Stockholms” spielen darf.

Der schwedische Weg

Als ich mich für ein Auslandssemester in Schweden entschied, spielte neben der renommierten Chorleitungsausbildung an der Kungliga Musikhögskolan in Stockholm auch der Ruf des Landes als solches eine Rolle: sauber, sozial, aufgeklärt; Vorreiter Europas in Digitalisierung und Genderthemen. Von Corona sprach damals noch keiner. Dass die Entscheidung für Schweden ein echter Glücksgriff war, erweist sich aber auch gerade in diesen Tagen, in denen sich ganz Europa den Herausforderungen durch das Virus stellt.

Alles „wie gehabt“?

Der „schwedische Sonderweg“ zieht die Aufmerksamkeit deutscher Tageszeitungen auf sich und hat angesichts der deutlich strengeren Restriktionen im Rest Europas einige Kritik einstecken müssen. Dies ist durchaus gerechtfertigt, betrachtet man die hohen Todesfallzahlen, die auch mit der Infektion von diversen Altenheimen zusammenhängen. Allerdings mag durch die Berichterstattung mancher Medien der Eindruck entstehen, das Leben liefe in Schweden weiter wie bisher – und das tut es ganz gewiss nicht. Das Verbot von Veranstaltungen mit über 50 Teilnehmer*innen trifft gerade den kulturellen Sektor: Das Konzerthaus und die Oper haben ihre Veranstaltungen eingestellt, die meisten Museen haben geschlossen, Gottesdienste und die traditionellen Feierlichkeiten zur Walpurgisnacht wurden vielerorts abgesagt. Der Nahverkehrsdienst SL schützt seine Fahrer*innen, indem Busse nur noch durch die Hintertür betreten werden dürfen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln wird dafür geworben, nur bei gutem Gesundheitszustand und nur wenn unbedingt notwendig zu reisen. Dennoch, die meisten Maßnahmen sind freiwillig: Die schwedische Regierung appelliert an die Vernunft der Bevölkerung.

Digitale Universität

Am stärksten treffen die Maßnahmen allerdings die Gymnasien (die hier im Sinne von Oberschulen ab der 9. Klasse starten) und Universitäten: diese wurden von der Regierung angehalten, ab dem 18. März auf Online-Lehre umzustellen. Die Universität Stockholm, an der ich einen Schwedischkurs für ausländische Studierende belege, schaffte dies binnen einer Woche – eine geradezu rekordverdächtig anmutende Zeit, zumindest für eine deutsche Studentin, die von Lehrveranstaltungen an ihrer  Heimatinstitution regelmäßige Kämpfe mit dem WLAN und zusammenbrechenden Servern gewohnt ist. Zu verdanken ist dies einer guten digitalen Infrastruktur, die bereits vor der Corona-Krise bestens funktionierte und die entsprechend der Belastung durch steigende Nutzungszahlen aufgerüstet werden konnte. Außerdem dürfen schwedische Bildungseinrichtungen auf Programme wie Zoom und Microsoft Teams zurückgreifen, deren institutionelle Nutzung in Deutschland aus datenschutzrechtlichen Gründen häufig nicht gestattet ist. Auch die Königliche Musikhochschule (KMH) verfügt über eine gute digitale Infrastruktur; neben der Lernplattform Moodle funktionieren auch die persönliche Stundenplanorganisation sowie das Buchungssystem für die Übungsräume online. Anders als eine Universität, deren Lehrveranstaltungen hauptsächlich aus Vorlesungen und Seminaren bestehen, die ohne weiteres online umgesetzt werden können, wird eine Musikhochschule jedoch durch das in den meisten Lehrveranstaltungen vorgesehene aktive Musizieren vor besondere Probleme gestellt.

Online Musik machen – was geht (nicht)?

Während die Musikhochschule ihre Gebäude für den Unterrichts- und Übebetrieb schloss, suchten die Studierenden nach alternativen Übemöglichkeiten. Hier zeigte sich die KMH sehr kulant, und so durfte sogar eine hochschuleigene Harfe in das Wohnheimzimmer einer Kommilitonin gestellt werden. Als orgelspielende Kirchenmusikstudentin hatte ich es da natürlich schwerer – aber dank der Leiterin des hiesigen kirchenmusikalischen Institutes sowie der Hilfsbereitschaft diverser Lehrer*innen und Kommiliton*innen hatte ich innerhalb kurzer Zeit mehrere Kirchen in Aussicht und darf nun regelmäßig an den drei Orgeln einer der größten Kirchen Stockholms üben.

Der viermanualige Orgelspieltisch in der Högalidskirche in Stockholm.
Fotografin: Julia Lorenz

Auch wenn die Einzelunterrichte und theoretisch ausgerichteten Seminare online durchgeführt werden können, so fällt doch ein wichtiger Bereich weg, für den ich ursprünglich nach Stockholm gekommen war: die Chorleitung. Die Verzögerung in der Datenübertragung macht es unmöglich, online miteinander zu musizieren, weshalb Chorproben schlicht nicht stattfinden können. Stattdessen wird der Unterricht auch hier als Einzelunterricht erteilt, was die Fokussierung auf bewegungstechnische Details ermöglicht. So muss der Unterricht nicht komplett ausfallen, allerdings fehlen natürlich die Probenerfahrung sowie die Arbeit mit den professionellen Sänger*innen des Schwedischen Radiochores, mit welchem die KMH in der Chorleitungsausbildung kooperiert. Auch die soziale Komponente des Musikstudiums fehlt mir: das gemeinsame Mittagessen mit den Kommiliton*innen, die Kaffeepausen und Gespräche, das gemeinsame Singen und Spielen. Dennoch können die Bemühungen der KMH und der Lehrenden, ein Studium trotz Corona-Krise zu ermöglichen, nicht genug wertgeschätzt werden.

Ein bisschen Freiheit

Ich persönlich profitiere davon, aktuell in einem Land zu leben, das seinen Bürger*innen verhältnismäßig wenige Corona-Restriktionen auferlegt. Die Umstellung der Universität und Hochschule auf Online-Lehre sowie die weitreichenden Beschränkungen des kulturellen Lebens betreffen mich stärker als die durchschnittlichen Schwed*innen. Wären Kontakt- und Ausgehverbote wie in anderen EU-Ländern hinzugekommen, hätte ich meinen Auslandsaufenthalt mit hoher Wahrscheinlichkeit abbrechen müssen. Dass ich hier bleiben konnte und wollte, verdanke ich unterschiedlichen „Standortfaktoren“: Den Bemühungen der KMH, meiner guten sozialen Anbindung zu Kommiliton*innen und im Wohnheim, den offenen Landesgrenzen Schwedens sowie den beständig verkehrenden Zügen und Fähren, die mir bei Bedarf jederzeit eine Heimreise ermöglichen. So darf ich zumindest die länger werdenden Tage und die schwedische Natur genießen; und auch den „schwedischen Sonderweg“ miterleben. Sicherlich bewerten nicht alle Bürger*innen diesen als gut, dennoch zeichnet sich Schweden durch ein großes Vertrauen der Regierung in die Bevölkerung und umgekehrt aus, was mich beeindruckt und inspiriert.

Julia Lorenz
8. Fachsemester, Polyvalenter Zwei-Hauptfächer-Bachelorstudiengang mit Lehramtsoption (Hochschule für Musik und Universität)
aktuell im Auslandssemester an der Kungliga Musikhögskolan in Stockholm

Weitere Informationen:
FACE it – Lehramtsstudierende bloggen über ihr Studium in Freiburg

Studentische Blogger*innen teilen ihre Meinung zum Lehramtsstudium an der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule, für die Sekundarstufe 1 und für das Gymnasium.

Die Blogger*innen verfassen Texte über ihre Eindrücke und Erfahrungen im Lehramtsstudium in Freiburg, die auf der Webseite der School of Education FACE veröffentlicht und über den vierteljährlich erscheinenden Newsletter beworben werden.

Weitere FACE it-Texte der Newsletter-Ausgabe 02/2020 zum Fokusthema “Digital durch die Krise”: